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Raoul Schrott

Was wie eine Utopie erscheinen mag, nämlich das „dichte Denken“ der Wissenschaft mit dem „dichterischen Denken“ zusammenzuführen – der 1964 in Landeck, Tirol, geborene Raoul Schrott hat den Versuch gewagt. Am Donnerstag, den 26. Januar 2017 wird er um 20 Uhr im Lesesaal der Stadtbücherei aus seinem „Erste Erde Epos“ lesen, einem großformatigen Buch von 800 Seiten, das eine Vielfalt lyrischer und narrativer Formen verbindet mit den sprachlichen Registern eines Sachbuches.

Raoul Schrott, der 1997 erstmals Gast des Münsteraner Lyrikertreffens war, hat vor sechs Jahren, ebenfalls auf dem Lyrikertreffen, aus einem Buch gelesen, das er zusammen mit dem Neuropsychologen Arthur Jacobs geschrieben hatte: „Gehirn und Gedicht“. In ihm hatten der Wissenschaftler und der Poet die verblüffenden Überschneidungen zwischen elementaren Stilmitteln der Literatur und elementaren Prozessen im Gehirn herausgearbeitet. Auch das „Erste Erde Epos“ ist in Zusammenarbeit mit der Wissenschaft entstanden; über mehrere Jahre hinweg ist es wie ein großes Forschungsprojekt von der Kulturstiftung des Bundes gefördert worden. Das Verfahren, das Raoul Schrott bei seinem neuen Buch gewählt hat, ist indes weniger das einer Kooperation als das einer Anverwandlung.

Sein „Epos“ – eine Arbeit von sieben Jahren – ist das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit dem heutigen Wissen über die Welt: Vom Urknall über die Entstehung des Planeten bis zum Auftreten des Homo sapiens unternimmt es den kühnen Versuch, wissenschaftliche Erkenntnisse literarisch umzusetzen und sie an einzelnen Lebensgeschichten anschaulich zu machen. In wechselnden poetischen Formen ergibt sich ein breites literarisches Panorama. Im zweiten Teil des Buches fasst Raoul Schrott in Sachbuchform unseren heutigen Wissensstand zusammen.

In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung hat Raoul Schrott auch die moralische Dimension seines poetisch wissenschaftlichen Projektes bestimmt. Gerade indem die Wissenschaften sich vom Subjektiven abgekoppelt hätten, um das Ich dahinter auszuklammern, seien sie so erfolgreich in der Modellbildung der Welt geworden: „Aber es fehlen uns nun die Mittel zur Rückübersetzung in die menschliche Lebenswelt. Das heißt: Wie lässt sich aus all den uneigentlichen Prozessen, mit denen sich die Wissenschaften beschäftigen, eine menschliche Relevanz herauslesen? Welche Moral, welcher Sinn des Lebens lässt sich dadurch bestimmen? Und wie damit das Überkommene der Religion modifizieren, wenn nicht gar ersetzen?“ Bis Darwin und Einstein habe Wissenschaft ihre Weltdeutung noch behaupten können, jetzt aber habe sie eine merkliche Leerstelle hinterlassen: „Wie dann aber Moral definieren – die doch stets von einer Weltdeutung abhängig ist?“ Stephan Lohr in Spiegel Online: „Wieder einmal bestätigt Raoul Schrott sein Ausnahmetalent und seine Leidenschaft für Erkenntnisemphase. ‚Erste Erde. Epos‘ steht unvergleichbar in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart.“



„scene: österreich in nrw“- so heißt das Projekt, an dem sich das Kulturamt der Stadt Münster spartenübergreifend beteiligt. Der Literaturverein Münster ist für die literarischen Bausteine dieses Programms verantwortlich. Und es wird eröffnet mit einem Autor, der wie kaum ein zweiter in diesem Frühjahr höchste Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat – obwohl das Buch noch gar nicht veröffentlicht war. Am Dienstag, den 22. April wird um 20 Uhr im Lesesaal der Stadtbücherei Raoul Schrott aus einem überraschenden Werk lesen. Es verbindet jahrtausendeübergreifende literaturhistorische Kenntnisse und eine komparatistische literaturwissenschaftliche Kompetenz mit allen Tugenden eines unterhaltsamen Erzählers: „Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe“. Es ist ein grandioses Werk aus dem Quellgrund der neuen „Ilias“-Übersetzung, an der Schrott seit Jahren arbeitet und die im kommenden Herbst erscheinen wird.

Raoul Schrott – 1997 Gast des Münsteraner Lyrikertreffens - ist eine Ausnahmeerscheinung im europäischen Literaturbetrieb. Der 44-jährige Tiroler zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Dichtern, Erzählern, Essayisten. Und gleichzeitig studiert er die „Erfindung der Poesie“ – indem er sie „aus alten Sprachen“ übersetzt! Im Jahr 2001 ist eine Übertragung des Gilgamesh-Epos erschienen, das jetzt auch im Homer-Buch gewichtige Spuren hinterlassen hat.

„Der göttliche Homer“, so fasst Schrott „Homerische Legenden“ zusammen: „der arme Sänger; der Seher; der blinde Mann aus Chios, Smyrna oder einer anderen der sieben Städte, die sich seine Herkunft zugute hielten; der Geschichtsschreiber und Philosoph; der Schirmherr aller Scholiasten, Kommentatoren, Exegeten, Gräzisten und Lehrer; der Übervater für all seine Epigonen; eine Autorität in Sachen Religion und aller sonstigen Dinge des Lebens, kurz: der Dichter – das ist die Maske, die uns seit dem Ende des 6. Jahrhunderts vor unserer Zeit entgegenstarrt.“ Das lateinische Wort für Maske ist „persona“, und Raoul Schrott ist so verwegen, hinter der Maske das Gesicht zu suchen, hinter dem Kampf um Troia die „realen“ Hintergründe: die Städte, die Gebirge, die Ebenen, die Flüsse. Raoul Schrott hat die Schauplätze aufgesucht; zahlreiche Fotos im Anhang des Buches stammen von ihm selber. Und er hat sehr gute Gründe, die Frage aufzuwerfen, ob Homer tatsächlich der „urgriechische“ Autor ist, als den wir ihn zu kennen glauben, oder nicht eher ein multikultureller Dichter, ein Weltensammler, der aus dem Füllhorn der ihn umgebenden orientalischen Kulturen geschöpft hat. Kommentatoren auf den politischen (!) Seiten überregionaler Tageszeitungen sehen in Raoul Schrotts „Antworten“ neue Fragen entstehen nach dem, was wir lange Zeit für unsere abendländische Identität gehalten haben: „Homer als Schreiber in assyrischen Diensten?“, fragt die F.A.Z. in einem Beitrag mit der Überschrift „Wir sind Kinder des Orients“ und gibt der Vermutung Ausdruck: „Diese Ilias könnte ideologische Fundamente stürzen“. - Für Spannung(en) ist bestens gesorgt!