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Stefan Hertmans

In diesem Jahr hat es eine unübersehbare Flut von Publikationen zum Ersten Weltkrieg gegeben. Wenn ein deutscher Verlag unter dem Titel „Der Himmel meines Großvaters“ einen belgischen Roman herausgibt, der wörtlich übersetzt „Krieg und Terpentin“ heißt, muss er gefürchtet haben, dass dieser Roman in jener Flut untergeht. Der Roman ist in Belgien mehr als 125.000mal verkauft worden, und soeben ist sein Verfasser, Stefan Hertmans, mit dem höchstdotierten Preis für niederländische Literatur ausgezeichnet worden. Am 2. Dezember 2014 wird um 20 Uhr im Lesesaal der Stadtbücherei der 1951 geborene flämische Erzähler, Essayist und Lyriker (2001 Gast des Lyrikertreffens Münster) aus seinem Roman lesen, der tatsächlich eines der großen europäischen Werke über den Ersten Weltkrieg ist – und über Belgien und über die Malerei („Terpentin“) und über die Kunst schlechthin.

„Man kann alles, wenn man will!“, sagt der alte Mann zu seinem Enkel und schwingt sich in den Kopfstand. Die wahre Willenskraft seines Großvaters begreift Stefan Hertmans jedoch erst, als er dessen Tagebücher liest und daraufhin beschließt, dieses Leben zu rekonstruieren. Eindringlich beschwört er eine bitterarme Kindheit in Belgien, zeigt den 13-Jährigen, wie er bei der Arbeit in der Eisengießerei davon träumt, Maler zu werden, und stattdessen im Ersten Weltkrieg – dem „Großen Krieg“ – an die Front nach Westflandern gerät. Dass der Mann, der dieses Grauen überlebt, fast am Tod seiner großen Liebe zugrunde geht, ist eines der Geheimnisse, denen der Enkel auf die Spur kommt. So fördert beispielsweise ein Ausflug mit seinem Sohn in die Londoner National Gallery verlorene Erinnerungen zutage, als der Autor in Velásquez’ „Venus vor dem Spiegel“ eben jenes Bild wiederentdeckt, das sein Großvater – mit einer subtilen Abweichung – einst reproduziert hat …

Der Roman ist angelegt wie ein Triptychon. Eingebettet in seine eigene autobiographische und familiengeschichtliche Spurensuche hat Stefan Hertmans die Kriegstagebücher seines Großvaters. In diesem mittleren Teil ist der Roman durchaus mit „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque zu vergleichen, von dem denn auch das Motto des Romans stammt. Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung hat noch einen anderen deutschen Autor als Vergleich hinzugezogen. Mit der Verschränkung von „Krieg“ und „Terpentin“, nämlich Malerei, habe Hertmans eine atmosphärische Polarität aufgebaut, die größer kaum vorstellbar sei: „Sie spannt sich aus zwischen dem Horror von Materialschlacht und Stellungskrieg einerseits und der geduldigen, kontemplativen, kunstfrommen Handarbeit der Malerei andererseits. „Krieg und Terpentin“: Das ist die belgisch-zivilisierte Antwort auf Ernst Jüngers brutale Dialektik von Schönheit und Schrecken.“



Nicht nur Bücher, auch Häuser haben ihre Schicksale, und die Weltliteratur ist reich an solchen „Haus-Büchern“. Der Bibliothek jener Schicksale fügt der belgische Autor Stefan Hertmans ein weiteres Buch hinzu. Es trägt den unscheinbaren Titel „Der Aufgang“ und führt in dunkle Kapitel der mitteleuropäischen Geschichte. Aus diesem Roman wird Stefan Hertmans am Donnerstag, den 7. Juli 2022 im Haus der Niederlande lesen (Alter Steinweg 6), Beginn: 20 Uhr.

Stefan Hertmans, geboren 1951 in Gent, ist Lyriker, Dramatiker, Romancier, Essayist. Er gilt als einer der wichtigsten niederländischsprachigen Autoren der Gegenwart. „Krieg und Terpentin“ war 2016 für den International Man Booker Prize und den Premio Strega International nominiert. Zudem wurde der Roman von „The New York Times“, „The Times“ und „The Economist“ zu einem der besten Bücher des Jahres gewählt. „Die Fremde“ war für den National Jewish Book Award nominiert und stand auf der Shortlist des Fémina étranger. Hertmans lebt in Brüssel und im südfranzösischen Monieux. Er war bereits mehrfach in Münster zu Gast, zuletzt mit einem aktualisierten „Antigone“-Stück.

Als der Autor sich – 1979 - zum Kauf eines alten Hauses in Gent entschließt, ahnt er nicht, welche Geschichten sich hinter dessen Mauern abgespielt haben. Er macht sich auf die Suche nach den Spuren der früheren Bewohner. Und stößt auf die Geschichte eines SS-Offiziers – Willem Verhulst - und dessen pazifistischer Frau, Meintje. Mit sechs Jahren war Willem auf einem Auge erblindet und dadurch zu einem scheuen Außenseiter geworden. Doch während seiner Gärtnerlehre entwickelt er sich zu einem großmäuligen Verfechter der flämischen Sache und beginnt Sympathien für die Ideologie der Nationalsozialisten zu entwickeln. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg zieht Verhulst mit seiner Familie nach Gent, wo er unter der deutschen Besatzung eine kollaborierende Karriere macht. Meintje hingegen bleibt ihren Überzeugungen ein Leben lang treu und unternimmt alles, um ihre Kinder von der Naziideologie fernzuhalten. In der Zerreißprobe dieser Ehe macht Stefan Hertmans auf unnachahmliche Weise geschichtliche Verwerfungen in all ihrer Komplexität erlebbar. Bettina Baltschew im MDR-Kultur: „Wie man aus der exemplarischen Geschichte eines Unbelehrbaren mitreißende Literatur macht, das beweist Stefan Hertmans in seinem Roman „Der Aufgang“ aufs Vortrefflichste.“