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Dieter Wellershoff

Er ist einer der bekanntesten Schriftsteller der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, und er kann heute zurückblicken auf ein literarisches, essayistisches und editorisches Lebenswerk, das mehr als fünf Jahrzehnte umfasst. Am Dienstag, den 21. März um 20 Uhr wird im Lesesaal der Stadtbücherei Dieter Wellershoff aus seinem neuen Erzählungsband „Das normale Leben“ lesen. Anlässlich seines 80. Geburtstages wurde Dieter Wellershoff in einem Interview gefragt, warum er seine Figuren immer wieder im Alltag schildere. Seine Antwort: „Was ich darstelle, ist: Den Menschen wird heutzutage gesagt, dass sie sich selbst verwirklichen sollen. Versucht, aus dem kurzen Leben alles herauszuholen. Dafür gibt es aber keine verbindlichen Formen. Die Ehe ist keine verbindliche Form, auch nicht die Berufstreue. Alles ist anders möglich. Das führt dazu, dass die Menschen sich in ihrer prinzipiellen Verschiedenheit begegnen und aus dieser Verschiedenheit etwas machen müssen. Eine sehr illusionsanfällige Situation.“

Der neue Band mit seinen zehn zwischen 2002 und 2005 entstandenen Erzählungen hat einen ähnlichen Quellgrund wie der meisterliche Roman „Der Liebeswunsch“, mit dem Wellershoff vor gut fünf Jahren die Bestsellerlisten erreicht hat. Abermals stellt Wellershoff so etwas an, was der Kritiker Michael Braun eine „literarische Verhängnisforschung“ genannt hat. Meist sind es ganz banale Situationen, in denen Wellershoffs Figuren plötzlich mit ihrem Erlösungsbedürfnis konfrontiert werden. Der himmelschreienden Alltäglichkeit dieser Schocks entspricht eine vollkommen unprätentiöse Sprache, unter deren Oberfläche freilich eine Art Wetterleuchten sichtbar wird. Ein Ehepaar fährt von der Oper nach Hause, verlässt die Tiefgarage, der Erzähler schaut auf seine Menschenkinder hinab: „Er startete den Wagen, hielt an der Schranke, ließ die Scheibe herunter und schob den Parkschein in den Automaten. Vor ihnen schnellte der Sperrarm hoch. Alles funktionierte. Alles war wie immer. Langsam glitt der Wagen die Rampe hoch. Draußen dann die Stadt, die Lichtreklamen, der Verkehr. Und Schweigen. Wie ein Unheil, das vollstreckt wurde.“ Oder in der langen Erzählung „Das Sommerfest“, wo der Erzähler die Innenperspektive einer Figur realisiert, diejenige einer Frau, die in der Beflissenheit ihres Mannes eine fadenscheinige Täuschung erkennt: „Aber sie wusste nicht, ob es in ihrem Interesse lag, das aufzudecken. Sie fühlte sich leer und unfähig, irgend etwas zu entscheiden. Er wußte ja auch nicht, woran er mit ihr war, solange sie schwieg. Blind traf er die Wahl: weitermachen, erst einmal weitermachen - traf diese Wahl einfach für sie mit. Was das auf die Dauer bedeutete, wusste sie nicht. Vielleicht kann ich mich einmal rächen, dachte sie. Wenn es dann noch wichtig ist.“