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Karl-Heinz Ott

Am 28. Juni vor dreihundert Jahren ist er in Genf geboren, einer, der die europäische Geistesgeschichte bis heute prägt: Jean-Jacques Rousseau. Der Literaturverein Münster hat dies zum Anlass genommen, gleichsam zum Vorabend dieses Gedenktages einen Schriftsteller einzuladen, der bereits im letzten Jahr den Roman „zur Sache“ geschrieben hat. Am Dienstag, den 26. Juni 2012 wird Karl-Heinz Ott um 20 Uhr im Lesesaal der Stadtbücherei aus seinem Roman „Wintzenried“ lesen, der das Leben und Werk Rousseaus auf eine höchst eigenwillige Weise beleuchtet, besser: beschattet.

Literarische Auseinandersetzungen mit dem bis heute einflussreichen Aufklärer hat es in der deutschen Gegenwartsliteratur bereits gegeben, so Lion Feuchtwangers „Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean-Jacques Rousseau“ (1952) oder Ludwig Harigs „Rousseau. Der Roman vom Ursprung der Natur im Gehirn“ (1998). Karl-Heinz Ott, geboren 1957, bedient weder, wie Feuchtwanger, das Genre des historischen Romans, noch ist er so postmodern verspielt wie Harig. Im Titel seines Romans nennt Karl-Heinz Ott nicht den Helden, sondern eine Nebenfigur. Ohne diese allerdings wäre „alles“ anders gekommen. Ott erzählt - durchaus nah an den Quellen - die Geburt eines gigantischen Werkes aus dem Geist gekränkter Liebe. Wintzenried ist der Friseur und Perückenmacher von Rousseaus inbrünstig geliebter Pflegemutter. Sie ist 13 Jahre älter als der 16-jährige Zögling, aber als seine „Mama“ nicht mehr ihm, sondern Wintzenried sich erotisch zuwendet, gerät sein Leben aus den Fugen - so nachhaltig, dass er gegen Ende seines Lebens eine bittere Bilanz zieht „Warum nur musste ich Schriftsteller werden? Ich hätte mir alles ersparen können. (…) Wäre Wintzenried nicht gewesen, hätte ich niemals zur Feder greifen müssen. Süßes Dunkel der Unbekanntheit, dreißig Jahre lang warst du mein Glück, hätte ich dich doch nie verlassen. Ohne Wintzenried wäre alles gut gewesen."

Karl-Heinz Otts Roman fragt nach der zuweilen bissigen Spannung zwischen Leben und Werk. Mit präziser Phantasie und lustvoller Akribie verfolgt er die These, das weitgespannte Oeuvre des Jean-Jacques Rousseau lasse sich erklären aus einer traumatischen Liebesnot. Die so gewaltig ist, dass nur ein Gemenge aus Größen- und Verfolgungswahn sie einigermaßen „aufheben“ kann – mit der Konsequenz, dass all die politischen, philosophischen und pädagogischen Ideen Rousseaus nichts als der gigantische Ausfluss einer solipsistischen Erregung zu sein scheinen. Für Jörg Magenau im Deutschlandfunk stellt sich da die Frage, ob Rousseau überhaupt ein Aufklärer gewesen sei: „Ott zeigt ihn als einen Popstar seiner Zeit, von dem keine Wahrheiten zu lernen sind, sondern allenfalls Strategien der Selbstinszenierung. ‚Wintzenried’ ist eine Form der Dekonstruktion von Philosophie. Angewandte Skepsis. Also ein durchaus aufklärerischer und sehr unterhaltsamer Roman auf der Höhe seines Gegenstandes.“ Aber „Wintzenried“, das ist auch ein Roman, der – ganz ernsthaft – danach fragt, wie hoch der Preis ist, den ein Künstler bezahlen muss für seine Kunst. Oder wie wenig selbstverständlich es ist, dass es ein künstlerisches oder philosophisches Werk überhaupt gibt …