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Burkhard Spinnen

Burkhard Spinnen hat immer schon auch nicht-fiktionale Sachbücher geschrieben. Und unter dem Titel „Der schwarze Grat“ hat er vor gut zwölf Jahren die veritable Biografie eines mittelständischen Unternehmers vorgelegt, der auf einer Hochzeitfeier den Autor mit dem Ausruf angesprochen hatte: "Sie sollten einmal meine Geschichte schreiben!" Seinem neuen Buch liegt so eine Aufforderung nicht zu Grunde. Im Gegenteil. Spinnen hat sich freiwillig gemeldet, fast möchte man sagen: freiwillig melden müssen. Unter dem Titel „Die letzte Fassade“ erzählt er, „wie meine Mutter dement wurde“.

Am Donnerstag, den 11. Februar 2016 wird Burkhard Spinnen um 20 Uhr im Lesesaal der Stadtbücherei aus seinem Buch lesen, das sowohl thematisch als auch in seinem autobiographischen Ansatz einem aktuellen Trend zu entsprechen scheint. Aber man kann es mit Tolstoi halten, der seinen Roman „Anna Karenina“ mit dem Satz beginnt:
„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“ Burkhard Spinnen erzählt – ungeheuer fesselnd – nicht nur die Geschichte seiner Mutter, sondern auch seine eigene Geschichte.

Lange Zeit hat er es nicht bemerkt, das langsame Versinken seiner Mutter in eine Demenz. Dieser Vorgang stellt den Sohn vor eine Aufgabe, die ihn jeden Tag auch alltagspragmatisch aufs Neue überfordert. Unvermittelt verkehren sich alle Verhältnisse, die Mutter-Sohn-Beziehung erfährt eine radikale Veränderung. Hinzu kommt, dass die dauernde Konfrontation mit der Welt, die der Mutter unaufhaltsam abhanden kommt, den eigenen Lebensentwurf bedroht. Sie konfrontiert den betroffenen Sohn wie den „recherchierenden“ Autor mit einem völlig unerwarteten (und formfordernden) Problembereich. Und das ist die Frage nach der Grenze zwischen dem Charakter und der Krankheit der Mutter: „Diese Suche geschah unwillkürlich, und ich denke, der normale Verlauf einer Demenz legt sie nahe. Der Erkrankte baut nämlich ab, er verliert geistige Fähigkeiten, er verändert sich; dennoch bleibt in ihm noch der zu erkennen, der er war. Und selbst wenn die Demenz Geistiges beschädigt, so nicht irgendeine unpersönliche Fähigkeit, sie schädigt und verändert vielmehr genau diesen und keinen anderen Charakter, dies und kein anderes Temperament. Daher ist wohl jede Demenzerkrankung auch anders, weil sie einen bestimmten und unverwechselbaren Menschen trifft, der in seiner ureigenen Art darauf reagiert.“ Auch jeder Bericht über eine Demenzerkrankung gleicht keinem anderen, dann jedenfalls, wenn er ein schonungslos ehrlich ist. Der Berichterstatter Spinnen leugnet nicht, dass er der Schriftsteller Spinnen ist. Auch und gerade deswegen beansprucht er keinen Betroffenheitsbonus. Sein Buch hat Charakter, es scheut sich nicht, an literarischen Kriterien gemessen zu werden.




„Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ – so lautet der Untertitel eines streitbaren Buches aus der Feder des Psychiaters Manfred Spitzer; unter dem Titel „Digitale Demenz“ steht es bereits weit oben auf der Spiegel-Bestsellerliste und löst heftige Kontroversen aus. Eine originelle, ganz in Erzählung aufgegangene Position zum Thema bezieht das neue Buch von Burkhard Spinnen. Am Montag, den 1. Oktober 2012 wird er um 20 Uhrim Lesesaal der Stadtbücherei aus seinem Roman lesen, der als Titel den (auf der ersten Silbe betonten) Namen der weiblichen Hauptfigur trägt: „Nevena“.

Es ist eine Veranstaltung, die aus Mitteln des verdienstvollen Förderprogramms „Grenzgänger“ der Robert Bosch Stiftung unterstützt wird. Ein Grenzgänger-Buch ist der neue Roman des Münsteraner Autors in jeder Hinsicht. In einer Nachbemerkung bedankt sich Spinnen bei der Stiftung, die es ihm erlaubt habe, „meinen Hauptfiguren vorwegzureisen und all jene Orte zu besuchen, die als Schauplätze in diesem Roman erscheinen“. Der Plot des Romans lässt sich einfach zusammenfassen: Als Patrick, der siebzehnjährige Protagonist des Romans, seine Freundin Nevena in der virtuellen Welt eines Computerspiels verloren hat, machen sich Vater und Sohn auf eine zahlreiche Grenzen überschreitende Reise, um sie in der realen Welt Südosteuropas wiederzufinden. In seiner Nachbemerkung zeigt Burkhard Spinnen, dass er nicht nur zwischen der „analogen“ und der „digitalen“ Welt hin und her wechselt; manchmal ist sein Roman das Computerspiel, von dem er handelt. Vielmehr überschreitet er auch eine andere Grenze: die Grenze zwischen dem lebensgeschichtlichen Material und der Fiktion. Nevenas Geschichte sei ursprünglich die seines Sohnes Caspar gewesen: „Für diesen Roman hat er sie mir überlassen und mir die Freiheit gegeben, sie zu bearbeiten und zu verändern. Auf der Reise nach Bosnien war er ein aufmerksamer und inspirierender Begleiter; vor allem hat er mich in die Welt der Internetspiele eingeführt und mich in Fragen der Netzkultur beraten.“ Kristina Pfoser hat im ORF die Suchbewegung dieses verblüffenden Romanprojekts, das uns weder um den Verstand noch um die Vernunft bringt, gewürdigt: „Burkhard Spinnen stellt die Frage, ob das Internet als Versuchsstation für zukünftige Identitätsentwürfe taugt. Der Literatur könnte nicht zuletzt eine Vermittlerrolle zwischen den beiden Welten zukommen. Zwischen virtueller und post-jugoslawischer Realität ist Burkhard Spinnen eine berührende Vater-Sohn-Geschichte und eine spannende Road Novel gelungen.“

Mit freundlicher Unterstützung:

Robert Bosch Stiftung




Literaturwissenschaftler, Dozent, Juror, Herausgeber, Essayist, Kolumnist, Erzähler: Der Münsteraner Autor Burkhard Spinnen hat sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten zu einer markanten „Stimme“ im deutschen Literatur- und Kulturbetrieb entwickelt. Die letzten Publikationen des vielfach ausgezeichneten Autors mögen anzeigen, wie weit sich Spinnens literarische Interessen erstrecken. „Wie ich es sehe“, so heißt eine Sammlung von Prosaminiaturen des österreichischen Dichters Peter Altenberg, die mit einem Nachwort von Burkhard Spinnen soeben in der Manesse Bibliothek der Weltliteratur neu erschienen sind; unter dem Titel „Kram und Würde“ hat Spinnen vor einem Jahr seine eigenen Feuilletons und Glossen herausgegeben, die sich durchaus auch außerliterarischen Themen widmen - wie dem Fußball oder der Eisenbahn.

In diesem Herbst (2007) nun erscheint sein dritter Roman. Nach „Langer Samstag“ (1995) und dem Jugendroman „Belgische Riesen“(2000) ist „Mehrkampf“ mit fast 400 Seiten sein erster „großer“ Roman. Es ist die Geschichte zweier Männer, die durch einen bizarren Anlass zunächst _zueinander_ kommen: Der eine wird angeschossen, und der andere nimmt die Ermittlungen auf. Bei den olympischen Spielen 1984 ist es der an der Spitze der Weltrangliste stehende Zehnkämpfer Roland Farwick, der beim Weitsprung „übertritt“ - was ihn nicht nur die Medaille, sondern auch seine Karriere kostet. Zwanzig Jahre später wird er angeschossen, und sein Leben wird noch einmal durchgerüttelt. Der ermittelnde Hauptkommissar Ludger Grambach ist einer der Millionen, die Zeugen von Farwicks Schicksal gewesen waren. Es stellt sich heraus, dass seine eigene Geschichte als gescheitertes Genie mit der des Zehnkämpfers eng verknüpft ist. Was indes der Beginn einer großen Freundschaft hätte werden können, entwickelt sich zu einem Duell, das sich auf zwei Ebenen anspielt: an der Oberfläche der Ermittlungsarbeit und in den Tiefen eines Internetspiels. All das, was vor zwanzig Jahren aufgeschoben wurde, muss jetzt endlich ausgetragen werden. Der Romantitel bekommt eine existentielle Dimension. „Mehrkampf“ ist zugleich ein spannender Kriminalroman und ein parabolisches Lehrstück, es vollzieht sich in 9 Akten von dem Mittwoch der einen bis zum Donnerstag der anderen Woche - und besteht fast nur aus geheimnisvollen Hauptsätzen: „Grambach erwacht durch ein Geräusch im Flur.“