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Gisela von Wysocki

Er war Philosoph, Soziologe, Musiktheoretiker und, was oft übersehen wird, auch Komponist und Pianist – ein Künstler! Zusammen mit Max Horkheimer steht er für die sogenannte Frankfurter Schule einer kritischen Theorie, die bis heute einflussreich geblieben ist: Theodor W. Adorno. Noch vor wenigen Wochen hat die „Zeit“ dessen Untersuchung über den autoritären Charakter als „beklemmend aktuell“ eingeschätzt. Jetzt hat Gisela von Wysocki über diesen großen Denker der Bundesrepublik einen hinreißenden Roman geschrieben, dessen Titel das Namensinitial ihres „Helden“ konkretisiert. Am Mittwoch, den 22 März 2017 wird sie in der Bibliothek des Hauses der Niederlande (Krameramtshaus, Alter Steinweg 6/7) um 20 Uhr aus ihrem neuen Buch „Wiesengrund“ lesen.

Die 1940 geboren in Berlin geborene Essayistin, Theater- und Hörspielautorin, Literaturkritikerin, hat Philosophie bei Theodor Wiesengrund Adorno studiert und ist über den österreichischen Dichter Peter Altenberg promoviert worden; am 28. März wird ihr der renommierte Heinrich-Mann-Preis verliehen. In ihrem ersten Roman – „Wir machen Musik“ – hat sie sich mit ihrer Herkunftsfamilie beschäftigt, jetzt verarbeitet sie ihren eigenen Bildungsgang zu einem Roman, der auch von der Spannung zwischen zwei wissenschaftlichen Disziplinen lebt.

Für Hanna Werbezirk, Ich-Erzählerin des Romans, sind Sterne ewig. Ihr Vater, ein weit über Salzburg hinaus bekannter Astrophysiker, weiß, dass sie aus endlichem Plasma und Gas gemacht sind. Sie hat wenig Lust, ihm als Assistentin in seinem astronomischen Labor zu dienen. Im „Nachtstudio“ hört sie heimlich die Vortragsfolge eines Autors, dessen Name sie sich merken wird: Wiesengrund. Er könnte hilfreich dabei sein, die Frage nach der Beschaffenheit der Sterne zu klären. Seine Worte, wendig und wandlungsfähig, eröffnen ihr den Blick in eine Welt mit eigenen Gesetzen. Das Gefühl einer Komplizenschaft mit dem radiophonen Mitternachtsbesucher macht aus der Lektüre seiner Schriften ein von Herzklopfen begleitetes Ereignis. Als Studentin der Philosophie reist Hanna einige Jahre später nach Frankfurt am Main, um ihren „Stern“, Wiesengrund „in natura“ zu erleben – und gerät in gänzlich neue Sphären. Die politischen Turbulenzen der Zeit wirken auch in ihre neuen Lebensverhältnisse hinein. Vor allem aber steht sie jenem magischen Feld gegenüber, das sie selbst um den hazardeurhaften Denker errichtet hat. Der Roman „Wiesengrund“ handelt von der Annäherung an ein Faszinosum. Und beschreibt die komischen, skurrilen Versuche, aber auch die Vergeblichkeit, seinem beklemmenden Zauber zu entkommen. Tilman Krause meint in der „Welt“, letztlich gehe es um „die Rauscherfahrung eines jungen, bildsamen Menschen durch den Geist“, und seine eigene Frage ob es sich nicht doch um eine Verbeugung handele, beantwortet er so: „Ja, aber eine, die mit dem Mittel der Entzauberung arbeitet, um einen tieferen Zauber freizulegen.“



Was ist das für ein Buch, dessen Titel den eines berühmten deutschen Revuefilms aus den frühen vierziger Jahren übernimmt: „Wir machen Musik“ mit Ilse Werner und Viktor de Kowa? Es ist ein Buch, das von einer wiedergefunden Zeit erzählt. Am Dienstag, den 19. Juli wird Gisela von Wysocki um 20 Uhrim Lesesaal der Stadtbücherei aus diesem Buch lesen, dessen Untertitel die „Geschichte einer Suggestion“ ankündigt. Sie habe, erzählt die Autorin, ihre Kindheit wie ein verschnürtes Paket vor sich hingestellt und mit einer Magnetnadel ihrer Geschichte gesucht: „Ganz im Sinne von Djuna Barnes, die meint, wie seltsam es doch sei, dass einem das Leben erst dann so richtig gehört, wenn man es erfindet.“

Gisela von Wysocki ist aufgewachsen als Tochter eines Pioniers der frühen Schellack-Kultur, der in den zwanziger und dreißiger Jahren die Tanz- und Varietéorchester Berlins ins ODEON-Aufnahmestudio geholt hat. Und damit ein musikalisches Genre etabliert hat, das heute weltweit eine schmunzelnd nostalgische Aufmerksamkeit durch Max Raabe und sein Palast-Orchester findet und hierzulande durch Götz Alzmann mit Verve und zärtlicher Ironie vitalisiert wird. Die Tochter von Georg von Wysocki (und Schwester des Komponisten, Arrangeurs und Bandleaders Harald Banter) wächst in einer Wohnung auf, in der es ganze Gebirge der schwarzen Scheiben gibt, „lautlose Bewohner der Fußböden“. Für das kleine Mädchen ist es nichts als Zauberei, dass in diesen nur scheinbar schweigsamen Platten Takte und Töne kreisen, Rhythmen und Notenköpfe: „Ganze Orchester hatten sich in den gleichförmigen Rillen des Materials niedergelassen.“

Die Essayistin und Theaterautorin Gisela von Wysocki erzählt in ihrer ersten großen Prosaarbeit nicht nur die kaleidoskopische – weder nahtlose noch durchkomponierte - Geschichte ihrer „éducation musicale“. Sie besichtigt auch ein Zeitalter, Krieg und Nachkrieg. Sie beginnt zu spüren, was die Schlagertrivialität verdrängt, aber im Lauf der Zeit erfährt sie auch, dass es eine Musik gibt, die das Verdrängte aufhebt: „Fremde sind wir, sagt uns diese Musik. Fremd eingezogen, unverwurzelt geblieben. Und daran wird sich niemals etwas ändern. Wir möchten Losgelöste, Leichtgewichtige sein. Aufsteigen, schwerelos: aber wir würden stürzen und zerschellen. Zum Fliegen sind wir nicht gemacht. Wir haben keinen andern Himmel als die Erde. Und deshalb schreibt Franz Schubert keine nahtlose, keine durchkomponierte Musik.“ Verena Auffermann in der „Zeit“: „Es ist Literatur, wie sie im autobiographischen Genre selten zu finden ist. Eine absolute Auslese, niedergeschrieben mit präziser Fantasie, mit großem und tropfenweise injiziertem Witz.“